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Usability Engineering ist in der Welt der Medizinprodukte von entscheidender Bedeutung, insbesondere wenn es um kritische Situationen geht. Dieser Gastartikel von Custom Medical erklärt die Grundlagen des Usability Engineering Prozesses, der darauf abzielt, die Benutzerfreundlichkeit zu verbessern und potenzielle Risiken zu minimieren.

Usability Engineering für Medizinprodukte - Die Grundlagen erklärt

Stellen Sie sich vor, Sie liegen im OP Saal und werden operiert. Was eigentlich ein Routineeingriff sein sollte entwickelt sich anders als gedacht. Ihre Lunge versagt plötzlich und es wird nötig Sie an eine Herz-Lungen-Maschine anzuschließen.

Sekunden entscheiden darüber, ob Sie den Eingriff überleben, bleibende Schäden davontragen oder ob diesmal alles glatt läuft. Doch wie ging das noch mal fragt sich der OP-Assistent? Muss ich auf den Button drücken um die Maschine zu starten? Oder war es doch der hier…

Sie sehen: Im Notfall kann die gute Usability eines Medizinprodukts Leben retten! Deswegen gilt: In der Welt der Medizinprodukte spielt die Usability eine entscheidende Rolle für die Sicherheit und Wirksamkeit eines Produkts.

Die Lösung zur Sicherstellung einer Usability ohne inakzeptable Fehlbedienungen: Usability Engineering. Hierbei handelt es sich um einen Prozess, der darauf abzielt, die Benutzerfreundlichkeit von Medizinprodukten zu verbessern, um potenzielle Risiken für Patienten, Anwender und Dritte zu minimieren.

Die Grundlagen dieses Prozesses werden in der Norm IEC 62366-1 festgelegt, die speziell für die Anwendung auf Medizinprodukte entwickelt wurde. In diesem Artikel werden wir die wesentlichen Schritte dieses Prozesses erklären und warum er für die Entwicklung von Medizinprodukten unerlässlich ist.

 

Was ist Usability Engineering?

Usability Engineering bezieht sich auf die Anwendung von Kenntnissen über menschliches Verhalten, Fähigkeiten und Einschränkungen auf das Design von Medizinprodukten, um eine angemessene Benutzerfreundlichkeit zu erreichen. Ziel ist es, Bedienfehler zu identifizieren und zu minimieren, um unakzeptable Risiken für die Benutzer zu vermeiden.

Zudem ist Usability Engineering die pragmatischste und sicherste Art, die regulatorischen Anforderungen an die Usability eines Medizinprodukts zu erfüllen. Durch eine enge Zusammenarbeit mit dem Risikomanagement, benutzerzentriertes Design und klare Vorgaben zur richtigen Dokumentation, sind Hersteller mit Usability Engineering nach IEC 62366-1 immer auf der sicheren Seite! 

Aber wie genau läuft das Ganze ab? Schauen wir uns nun die Schritte des Prozesses im Überblick und der Reihenfolge nach an:

 

Schritt 1: Vorbereitung der Use Specification

Im Usability Engineering bezieht sich eine "Use Specification" auf ein Dokument oder eine Sammlung von Informationen, die spezifische Anforderungen und Ziele für die Benutzerfreundlichkeit eines Produkts oder Systems festlegt.

Dazu gehören Angaben zur medizinischen Indikation, den vorgesehenen Nutzern, den Patientengruppen, der Nutzungsumgebung, dem Körperteil oder Gewebetyp, an dem das Produkt angewendet werden soll, sowie dem Funktionsprinzip des Produkts.

 

Schritt 2: Identifizierung von Benutzerschnittstellenmerkmalen

Hier werden alle Teile des User Interfaces identifiziert, die mit der Sicherheit des Medizinprodukts zusammenhängen. Dabei werden potenzielle Bedienfehler erkannt, die zu unerwünschten Ereignissen führen könnten. Sie erinnern sich an unser Ausgangsszenario? Ein OP-Assistent, der sich über die Funktion eines Knopfes bei einer Herz-Lungen-Maschine unsicher ist und kritische Folgen durch das Drücken eines falschen Knopfes auslöst – das wäre ein sehr unerwünschtes Ereignis in diesem Fall!

 

Schritt 3: Identifizierung von Gefahren und Gefährdungssituationen

In diesem Schritt werden bekannte oder vorhersehbare Gefahren und Gefährdungssituationen im Zusammenhang mit dem Gebrauch des Medizinprodukts ermittelt. Das können fehlerhafte Alarme, eine zu komplexe Benutzerschnittstelle aber auch eine unklare Bedienungsanleitung sein. Dazu gehört die Berücksichtigung der Use Specification (also zum Beispiel von WEM das Produkt in WELCHER UMGEBUNG genutzt werden soll) sowie der zuvor identifizierten Bedienfehler.

 

Schritt 4: Identifizierung und Beschreibung von Nutzungsszenarien im Zusammenhang mit Gefahren

Basierend auf den zuvor identifizierten Gefahren und Gefährdungssituationen werden in diesem Schritt die damit verbundenen Nutzungsszenarien abgeleitet und beschrieben. Hierbei werden alle Aufgaben des Szenarios, ihre Reihenfolge und der Schweregrad möglicher Schäden festgehalten.

 

Schritt 5: Auswahl von Nutzungsszenarien für die summative Evaluation

Die summative Evaluation ist die abschließende Bewertung eines Medizinprodukts. Sie ist verpflichtend für die Zulassung. Das Ziel ist eine finale Testung, ob das Medizinprodukt von den Nutzenden ohne inakzeptable Risiken verwendet werden kann.

Sie wollen also beweisen, dass Ihr Medizinprodukt sicher zu nutzen ist und weder Nutzer, Patienten oder Dritten Schaden zufügt. Am Ende der summativen Evaluation haben Sie aufgezeigt, für welche sicherheitsbezogenen Aspekte Ihres Produkts das Gesamtrisiko auf ein akzeptables Niveau reduziert wurde und für welche nicht.

Für die summative Evaluation werden spezifische Szenarien ausgewählt, die die sicherheitskritischen Aspekte des Medizingeräts abdecken und die Wirksamkeit der Benutzerinteraktion mit dem Gerät überprüfen. Die ausgewählten Szenarien sollten realistische Nutzungssituationen darstellen und die wichtigsten Funktionen und Merkmale des Medizingeräts berücksichtigen.

 

Schritt 6: Festlegung der Benutzerschnittstellen-Spezifikation

Die Benutzerschnittstellen-Spezifikation wird unter Berücksichtigung der Use Specification, der identifizierten Bedienfehler und der gefährdungsbezogenen Nutzungsszenarien erstellt. Sie umfasst dokumentierte technische Anforderungen, Begleitdokumente und gegebenenfalls die Notwendigkeit eines Nutzertrainings.

 

Schritt 7: Festlegung des Bewertungsplans für die Benutzerschnittstelle

Der Bewertungsplan für die Benutzerschnittstelle bestimmt, wie die Überprüfung der Benutzerfreundlichkeit durchgeführt wird. Dabei werden Methoden für formatives (entwicklungsbegleitendes) und summatives (abschließendes und bewertendes) Testing festgelegt, einschließlich Testbedingungen und -umgebung. Oft sind hier Usability Tests unter Zuhilfenahme von Patientensimulatoren oder ähnlichem Equipment die Grundlage. Nehmen wir wieder unser Beispiel der Herz-Lungen-Maschine, müssten in diesen Tests auch alle Umgebungsfaktoren der realen Nutzungssituation wie stressige Störgeräusche berücksichtigt werden.

 

Schritt 8: Gestaltung der Benutzerschnittstelle

Auf Basis der festgelegten Anforderungen und Spezifikationen wird die Benutzerschnittstelle gestaltet. Hierbei sollen die zuvor identifizierten Bedienfehler minimiert oder ausgeschlossen werden. Wurde zum Beispiel im Testing herausgefunden, dass vielen Nutzern die Bedeutung eines Buttons unklar ist, werden hier durch das Design Maßnahmen ergriffen werden – zum Beispiel die eindeutige Beschriftung oder die Verwendung eindeutiger Symbole.

 

Schritt 9: Durchführung formativer Evaluationen

In diesem Schritt wird das Design mit echten Nutzern getestet, um potenzielle Bedienfehler zu identifizieren und zu minimieren. Dabei können verschiedene Methoden wie Usability Tests oder Interviews zum Einsatz kommen. Alle nicht akzeptablen Bedienfehler, die hier identifiziert werden müssen dann im Design der Schnittstelle berücksichtigt werden. Dann durchläuft das Produkt Iterationen, bis alle unakzeptablen Risiken bei der Benutzung ausgeschlossen sind.

 

Schritt 10: Durchführung der summativen Evaluation

Die summative Evaluation erfolgt anhand der in Schritt 5 ausgewählten Nutzungsszenarien und dient der abschließenden Bewertung der Benutzerfreundlichkeit des Produkts. Hierbei werden die Ergebnisse analysiert und gegebenenfalls weitere Verbesserungen vorgenommen.

 

Die richtige Dokumentation

Wer ein Medizinprodukt zulassen will, muss dafür die Erfüllung verschiedener Regularien bei Regulierungsbehörden nachweisen. Der Teil, der sich mit der Usability eines Medizinprodukts beschäftigt, will dabei richtig dokumentiert werden um Verzögerungen in der Zulassung zu vermeiden.

Usability Engineering umfasst also auch die Dokumentation des gesamten Entwicklungsprozesses, einschließlich der Usability-Studien, Testergebnisse und der angewendeten Methoden zur Risikominderung. Diese Dokumentation ist also ein wichtiger Bestandteil bei der Einreichung von Zulassungsanträgen bei Regulierungsbehörden. Das Dokument, das hier am Ende herauskommt und das Ihnen die Kommunikation mit den Zulassungsstellen erheblich erleichtert, heißt Usability Engineering File.

 

Fazit

Puh – das war viel formaler Prozess mit einem anderen Fokus als sonst im UX. Wenn Sie sich vor Augen führen, dass diese Art der Gestaltung von Medizinprodukten im Ernstfall Leben retten kann (wir erinnern uns an das Beispiel aus der Einleitung), wird allerdings die Wichtigkeit dieses Prozesses umso deutlicher.

Mithilfe des Prozesses können Hersteller nämlich sicherstellen, dass ihre Produkte sicher und einfach zu bedienen sind. Die korrekte Durchführung und Dokumentation ist dabei entscheidend für die Zulassung von Medizinprodukten und trägt dazu bei, potenzielle Risiken für Patienten, Anwender und Dritte zu minimieren.

Den Prozess in die Tiefe zu verstehen, bedeutet Aufwand, der sich jedoch lohnt! Wenn Sie jetzt etwas Feuer für das Thema gefangen haben, lesen Sie doch in unseren Artikel, der Teilschnitte im Detail erklärt: „Usability Engineering für Medizinprodukte nach IEC 62366-1“.

 

Marvin Kolb,

Custom Medical


20.02.24

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