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Der Cognitive Walkthrough ist eine Methode der Usability Inspektion und wird expertenbasiert durchgeführt. Dabei werden Benutzerkognitionen simuliert, um zu überprüfen, inwieweit ein vorher festgelegtes Ziel mit dem zu untersuchenden System erreicht werden kann. Im folgenden Artikel stellen wir Ihnen das methodische Vorgehen beim Cognitive Walkthrough vor. Dazu wenden wir ihn für ein Beispielszenario im Kontext der Nutzung von Elektrofahrzeugen im Carsharing an. Da der Cognitive Walkthrough zur Evaluation verschiedenster interaktiver Systeme verwendet werden kann finden Sie am Ende des Artikels Kontaktmöglichkeiten, um mit uns individuelle Einsatzmöglichkeiten der Methode in Ihrem Unternehmen oder Projekt diskutieren zu können.

Motivation unserer Untersuchung

Im Kontext des Carsharings haben Nutzende häufig keinen Einfluss darauf, welches Fahrzeug zum gewünschten Zeitpunkt zur Verfügung steht. Somit müssen sie unter Umständen bei jeder Nutzung eines Carsharing-Dienstes ein anderes, ihnen unbekanntes Fahrzeug nutzen. Dies geht dann einher mit der Situation, dass sich die Armaturen und zunehmend grafischen Benutzeroberflächen in den Armaturenbrettern (Dashboards) von Fahrzeugmodell zu Fahrzeugmodell unterscheiden. 

Durch dieses Vorfinden unterschiedlicher Dashboards bei verschiedenen Herstellern kann beispielsweise der Prozess der Einrichtung der zentralen Einstellungen eines Elektrofahrzeugs beeinflusst werden. So kann diese Beeinflussung die aufzuwendende Einstellungs- bzw. Einrichtungszeit erhöhen, bevor Carsharing-Kunden ihre Fahrt antreten können. Da es beim Carsharing üblich ist, dass die Serviceleistung entlang der Nutzungsdauer abgerechnet wird, kann dieser Kontext ein relevantes Stressmoment darstellen. 

Methode und Durchführung 

Um zu prüfen, ob Nutzerinnen und Nutzer bei ihrer Einrichtung im Elektrofahrzeug auf Probleme stoßen können, wird der Cognitive Walkthrough als Untersuchungsmethode gewählt. Damit in unserer Untersuchung die aktuell relevanten E-Fahrzeuge enthalten sind, wurden die Elektrofahrzeuge gewählt, die von zehn in Deutschland aktiven Carsharing-Anbietern mit den aktuell größten Flotten am häufigsten angeboten werden. Die Auswahl umfasste die nachfolgenden Elektrofahrzeuge aus den Segmenten Kleinst-/Kleinwagen bzw. Kompakt- und Mittelklasse:

    • Renault Zoe
    • BWM i3
    • Smart EQ fortwo
    • VW e-Golf
    • VW e-up
    • VW ID.3 
    • Tesla Model 3

Der Cognitive Walkthrough nutzt verschiedene Heuristiken zur Überprüfung eines Systems. Eine dabei gängige Heuristik ist die Konsistenz. Sie wird im UXQB Curriculum wie folgt beschrieben: 

„Dieselbe Information wird im interaktiven System durchgängig in gleicher Weise entsprechend der Erwartung des Benutzers präsentiert. [..] Konsistenz ist auf verschiedenen Ebenen relevant, wie z.B.: a. Innerhalb einer Bildschirmanzeige; b. zwischen den Bildschirmanzeigen desselben interaktiven System; c. zwischen interaktiven Systemen desselben Herstellers; d. zwischen ähnlichen interaktiven Systemen unterschiedlicher Hersteller“

Vor allem der letzte Punkt der Definition ist für das dargestellte Beispiel wichtig, da Nutzende im beschriebenen Beispiel mit Fahrzeugen verschiedener Hersteller konfrontiert sind. Ob die Konsistenz im dargestellten Beispiel gegebenen ist, wird nun mithilfe des Cognitive Walkthrough überprüft. 

Vorbereitende Aufgaben

Um den Cognitive Walkthrough durchführen zu können, muss der Nutzungskontext des zu evaluierenden Systems festgelegt werden. Dazu wird im ersten Schritt die Nutzergruppe betrachtet und eine fiktive Person beschrieben, die diese repräsentiert. Diese Beschreibung nennt man Persona, und sie hat das Ziel, den Expertinnen und Experten während des Cognitive Walkthrough oder anderer Methoden der Usability Inspektion eine klare Vorstellung der Nutzenden des Produkts/Systems zu geben. Darauf aufbauend werden eine oder mehrere typische Aufgaben, die mit dem System erfüllt werden können, dokumentiert. Um das System anhand dieser Aufgaben zu untersuchen, werden sie in Bearbeitungsschritte (Tasks) unterteilt. Diese Tasks beschreiben die einzelnen Schritte, die zum Erfüllen der Aufgabe erledigt werden müssen. Anschließend werden zu den Bearbeitungsschritten der zu untersuchenden Aufgabe die Benutzerkognitionen anhand von vier Fragen simuliert und entsprechende Usability und User Experience-Findings dokumentiert. 

Vier Fragen eines jeden Cognitive Walkthrough

  1. Werden Nutzende versuchen, den richtigen Effekt zu erzielen?
  2. Werden Nutzende erkennen, dass die korrekte Aktion zur Verfügung steht?
  3. Werden Nutzende eine Verbindung herstellen zwischen der korrekten Aktion und dem gewünschten Effekt?
  4. Wenn die korrekte Aktion ausgeführt worden ist: Werden Nutzende den Fortschritt erkennen?

Frage 4 bezieht sich auf den Fall, dass die korrekte Aktion gefunden und ausgeführt wurde, unabhängig davon, wie die drei vorhergehenden Fragen beantwortet wurden. Diese Frage prüft, ob das untersuchte System den Nutzenden Feedback über den Systemstatus gibt. Für unser konkretes Beispielszenario wurde die Aufgabe „Fahrt mit einem Carsharing Elektrofahrzeug antreten“ gewählt und in die nachfolgende Reihe notwendiger einzelner Tasks zerlegt:

  1. Verfügbares Fahrzeug in der App buchen
  2. Fahrzeug entriegeln
  3. Fahrzeug von der Ladestation abkoppeln, falls nötig 
  4. Sitz einstellen
  5. Lenkrad einstellen
  6. Seitenspiegel einstellen
  7. Lokalisieren der Gangschaltung
  8. Lokalisieren der Warnblinker
  9. Lokalisieren der Blinker
  10. Lokalisieren der Beleuchtungseinstellung
  11. Einstellen der Beleuchtung
  12. Lokalisieren der Fensterheber
  13. Fahrzeugelektronik starten
  14. Ladestand überprüfen
  15. Einstellen der Klimaanlage 
  16. Eingabe des Navigationssystem
  17. Motor starten
  18. Gang einlegen

Allein diese Auswahl von 18 möglichen zentralen Tasks zeigt, wie umfangreich die Ergebnisse eines Cognitive Walkthrough auf Ebene einzelner Bearbeitungsschritte ausfallen können. Um das Beispiel hier im Blogbeitrag möglichst übersichtlich darzustellen, wird nachfolgend lediglich ein möglichst einfacher Bearbeitungsschritt detaillierter beschrieben; dafür wurde der sechste Bearbeitungsschritt Seitenspiegel einstellen ausgewählt.

  1. Werden Nutzende versuchen, den richtigen Effekt zu erzielen?

    Ja, Nutzende werden den Spiegel über die Bedienelemente in der Fahrertür verstellen wollen. 
    Ausnahme: Im Tesla Model 3 müssen die Seitenspiegel über das Infotainment-System eingestellt werden. Das bedeutet: Nutzende werden im Tesla die Einstellung der Seitenspiegel im Bereich der Fahrertür vermuten.

     
  2. Werden Nutzende erkennen, dass die korrekte Aktion zur Verfügung steht?

    Ja, Nutzende erkennen, dass die Seitenspiegel über das Bedienelement in der Fahrertür eingestellt werden können. 
    Ausnahme: Beim Tesla Model 3: Nutzende werden dort nicht erkennen, dass die korrekte Aktion zur Verfügung steht, da die Einstellung der Seitenspiegel über das Infotainmentsystem nicht den gängigen Konventionen entspricht.

     
  3. Werden Nutzende eine Verbindung herstellen zwischen der korrekten Aktion und dem gewünschten Effekt?

    Ja, Nutzende können eine Verbindung herstellen. 
     
  4. Wenn die korrekte Aktion ausgeführt worden ist: Werden Nutzende den Fortschritt erkennen?

    Ja, Nutzende erhalten durch die Veränderung der Seitenspiegelposition unmittelbares Feedback über die ausgeführte Aktion.

Diskussion der Ergebnisse

Der dargestellte Bearbeitungsschritt behandelt die Einstellung der Seitenspiegel. Um diesen Schritt zu analysieren, wurde bei den verschiedenen Elektrofahrzeugen geprüft, an welcher Stelle sich die Bedienelemente zur Einstellung der Seitenspiegel befinden. Die einzige Ausnahme in der Positionierung ist hierbei der Tesla Model 3; bei diesem befindet sich die Einstellungsmöglichkeit für die Seitenspiegel in einem Dialog des Bordcomputers. Eine konsistente Positionierung ist bei den anderen untersuchten Fahrzeugen gegeben. Bei diesen befindet sich das Bedienelement der Seitenspiegel an der Innenseite der Fahrertür und ist konsistent aufgebaut. Es gibt jeweils die Möglichkeit, den zu steuernden Außenspiegel zu wählen und Armaturen, um diesen dann einzustellen.

Mit diesem Wissen kann die erste Frage beantwortet werden. Die Antwort lautet „Ja, Nutzende erkennen, dass die Seitenspiegel über das in der Fahrertür eingestellt werden können.“ Ein weiterer Aspekt, der diese Annahme bestätigt ist, dass auch Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren das Bedienelement an dieser Position haben. So erwarten Nutzende aufgrund ihrer Erfahrung mit Verbrennern auch bei Elektrofahrzeugen, das Bedienelement an dieser Stelle zu finden. Ebenso wird die Frage für das Fahrzeug mit der Ausnahme beantwortet. So lautet die Antwort für den Tesla Model 3 „Nein, Nutzende werden die Einstellung der Seitenspiegel im Bereich der Fahrertür vermuten.“

In Frage 2 wird untersucht, ob Nutzerinnen und Nutzer aufgrund ihrer Erfahrung oder weil sie das entsprechende Bedienelement sehen können, erkennen können, dass sie die gewünschte Aktion ausführen können. Für die in diesem Bearbeitungsschritt konsistenten Fahrzeuge ist die Frage wie folgt zu beantworten: „Ja, Nutzende erkennen, dass die Seitenspiegel eingestellt werden können.“ Für den Tesla Model 3 lautet die Antwort „Nein, Nutzende werden nicht erkennen, dass die korrekte Aktion zur Verfügung steht.“

In Frage 3 wird überprüft, ob Nutzende, wenn sie die korrekte Aktion, also das Bedienelement sehen, eine Verbindung herstellen können zu dem gewünschten Effekt, in diesem Fall also die Einstellung der Seitenspiegel. Hier ist für alle Fahrzeuge die Frage mit „Ja, Nutzende können eine Verbindung herstellen.“ Die Verbindung kann von den Nutzenden hergestellt werden, da die Kennzeichnung des Bedienelements den Konventionen entspricht und durch die Erfahrung der Nutzenden wiedererkannt wird. 

Frage 4 betrachtet das System-Feedback: Hier wird untersucht, ob Nutzende vom untersuchten System Informationen darüber erhalten, dass die Aktion ausgeführt wurde. Diese Frage ist für alle Fahrzeuge mit „Ja, Nutzende erhalten durch die Veränderung der Seitenspiegelposition unmittelbares Feedback über die ausgeführte Aktion“ zu beantworten. 

Die Analyse dieses Bearbeitungsschritts zeigt, dass Nutzende sich in Elektrofahrzeugen, die der gewohnten Konvention (Konsistenz) entsprechen, schneller zurechtfinden und die Seitenspiegel zügig einstellen können. Durch den Bruch in der Konsistenz im Tesla Model 3 kommt es entweder zu einer größeren Verzögerung, da Nutzende erst den Bordcomputer nach möglichen Einstellungen durchsuchen müssten. Oder sie starten das Fahrzeug und ihre Fahrt mit nicht korrekt eingestellten Seitenspiegeln, um Zeit und somit auch im Kontext des Carsharings Geld zu sparen, in der Vorstellung, diese Einstellung auch noch während der Fahrt vornehmen zu können, was natürlich ein Sicherheitsrisiko darstellen kann. Beide Fälle sind suboptimal und könnten durch die konsistente Positionierung des Bedienelements behoben werden. 

Fazit und Ausblick

Anhand der Analyse des dargestellten Bearbeitungsschritts ist zu erkennen, dass Verletzungen der Konsistenz in interaktiven Systemen deren Bedienung erschwert und die Einarbeitungszeit erhöhen. Dieser erhöhte Zeitaufwand ist im Kontext des Carsharing für Nutzende mit finanziellen und sicherheitsrelevanten Hürden verbunden, da dadurch die Nutzung eines Carsharing Fahrzeugs unrentabel werden könnte oder Nutzende ein erhöhtes Sicherheitsrisiko in Kauf nehmen, um ihre Kosten zu senken. 

Ebenso zeigt der dargestellte Bearbeitungsschritt auch, dass ein Großteil der untersuchten Elektrofahrzeuge den einheitlichen Konventionen entsprechen. Diese Konventionen haben sich schon in Fahrzeugen mit Verbrennungs-Motoren etabliert und deren Anwendung in Elektrofahrzeugen erleichtert Nutzenden den Umstieg auf entsprechende Fahrzeuge. 

Die Untersuchung im Kontext des Carsharing zeigt auch, dass die Abrechnung nach Zeit nicht optimal ist, da die Carsharing-Anbieter nur bedingt Einfluss auf die Konsistenz der Armaturen der Fahrzeuge haben. Zwar könnten die Carsharing-Anbieter die Fahrzeuge aus ihren Flotten streichen, deren Bedienung (in Teilen) nicht der gängigen Konventionen entsprechen. Jedoch könnte das Ausschließen bestimmter Fahrzeuge die Attraktivität des Anbieters bei Kunden schmälern, die zum Beispiel einen Tesla Model 3 im Carsharing fahren wollen. Um diesen Attraktivitätsverlust zu vermeiden und sicherzustellen, dass Kunden unter sicheren Bedingungen die Fahrt antreten, eignet sich die Umstellung des Abrechnungssystems auf eine Abrechnung nach gefahrenen Kilometern. Dadurch würden Kunden nicht davon abgehalten werden, die Zeit zu investieren, sich im Carsharing Fahrzeug einzurichten und alle sicherheitsrelevanten Einstellungen vor der Fahrt vorzunehmen. Diese neue Form der Abrechnung wird zum jetzigen Zeitpunkt allerdings erst von einem Anbieter angeboten.  

Unser Angebot für Sie 

Wie bereits einleitend erwähnt: das hier vorgestellte Beispiel ist nur eine exemplarische Darstellung für die Verwendung des Cognitive Walkthrough. Der Cognitive Walkthrough kann zur Evaluation vieler verschiedener interaktiver Systeme verwendet werden. Wenn Sie Fragen zum Einsatz des Cognitive Walkthrough in Ihrem Unternehmen oder Projekt haben, zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren.

 


22.12.21

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