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Prof. Dr. Nicola Marsden ist Professorin an der Hochschule Heilbronn für Sozioinformatik und hat einen Forschungsschwerpunkt zum Thema Gender und IT. Im ersten Teil des Interviews mit ihr haben wir das Thema Gender und IT etwas grundsätzlicher besprochen. Im zweiten Teil des Interviews sprechen wir nun darüber, wie kleine und mittlere Unternehmen für mehr Geschlechtergerechtigkeit in ihren Unternehmen sorgen können und warum es Sinn macht, Methoden auszuwählen, die systematisch alle TeilnehmerInnen einbinden. Das Gespräch hat uns inspiriert, Methoden zu nutzen, die Vorabzuschreibungen und Stereotype verhindern.

Magdalena Laib (ML): Wenn Sie Großunternehmen mit kleinen und mittleren Unternehmen vergleichen, finden Sie da Unterschiede in Bezug auf Geschlechtergerechtigkeit oder auch die Positionierung von Frauen?  

Nicola Marsden (NM): Ich glaube, viele große Unternehmen haben sich des Themas aus verschiedenen Gründen schon sehr ernsthaft angenommen und im Rahmen ihrer Prozesse professionalisiert: Wie können wir das Potenzial von diversen Teams für Innovationen nutzen? Wie werden Stellen besetzt? Wie kann Vernetzung stattfinden? Wie können Strukturen geschaffen werden, die wirkliche Gleichberechtigung ermöglichen? Aber in einer großen Organisation gibt es Menschen, die sich mit diesem Thema beschäftigen und das vorantreiben. Das ist dann eine größere Selbstverständlichkeit als bei einem kleinen oder mittleren Unternehmen, das sich alles selbst erarbeiten muss und wo es keine fertigen Strukturen gibt, an denen man sich orientieren kann, um z.B. geschlechtergerecht zu sein. Zum Beispiel ist es wichtig, dass Frauen nicht als einzige Frau in Teams oder Abteilungen sind. Das kann in großen Organisationen viel besser umgesetzt werden, weil da einfach mehr Frauen sind. Von daher haben große Organisationen einfach durch ihre Größe und die Strukturen, die sie haben, an einigen Stellen Vorteile gegenüber kleinen Unternehmen.  

ML: Wenn Sie kleine und mittlere Unternehmen zu diesem Thema beraten würden, was würden Sie diesen empfehlen, um sich geschlechtsdiverser aufzustellen? 

NM: Es gibt eine ganze Reihe von Techniken und Praktiken, die hilfreich sind und die eigentlich zum professionellen Arbeiten dazugehören. Wenn man diese nutzt, dann ist das häufig schon ein ganz wichtiger Schritt in Richtung Geschlechtergerechtigkeit. Es fängt an mit Einstellungsverfahren, wo man allen BewerberInnen die gleichen Fragen stellt und klare Kriterien hat. Meetings nur mit Agenda und Moderation. „Round Robin“-mäßige Abfragen, damit jede Person erst ihre Gedanken sortieren kann, bevor Daten erhoben werden oder eine Diskussion startet. Das, was Frauen benachteiligt, ist zum einen eine bestimmte Art von Maskulinität, die dann ja auch für andere die Chancen schmälert. und zum anderen ist es auch die Gruppendynamik und Dominanz einer Gruppe, in der Frauen in der Minderheit sind. Das heißt aber, wenn wir uns agile Vorgehensweisen oder andere strukturierte Arbeitsweisen anschauen, dann sind es ja genau diese, die dafür geeignet sind, dass alle zu Wort kommen und alle sich einbringen können. Das betrifft auch die Prozesse. Wir haben dazu in verschiedenen Projekten Leitlinien für die Praxis entwickelt, z.B. für den Softwareentwicklungsprozess als Ergänzung zur ISO 9241-210, als Methoden- und Aktivierungskarten, oder als Handlungsempfehlungen und Best Practices für Unternehmen.  

ML: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, hängt viel an Strukturen und Organisation. Wenn wir eine gute Basis schaffen, wo alle sich entfalten, entwickeln, äußern und beitragen können, ist es gar nicht mehr so wichtig, wer das dann ist. 

NM: Genau. In dem Moment, wo Geschlecht überhaupt zum Thema wird, ist es meistens zum Nachteil von Frauen. Das ist ja das Paradox, in dem wir uns bewegen.  

ML: Das ist sehr spannend. Denn man hat doch den Impuls, den Fokus auf das Geschlecht zu legen und z.B. Frauen besonders in den Vordergrund zu rücken. Aber Sie sagen ja, dass es zielführender ist, die Bedingungen grundsätzlich für alle zu ändern.

NM: Genau. Wie können Bedingungen geschaffen werden, die für alle gleich sind, dass alle gleich partizipieren und sich einbringen können? Dazu braucht es natürlich zunächst das Eingeständnis, dass das nicht von selbst passiert, da wir alle unbewusste Vorurteile in uns tragen.  

ML: Wo spielt denn Gender in Methoden aus den Bereichen Agilität und benutzerzentrierte Gestaltung eine Rolle und wodurch können Probleme entstehen? 
 
NM: Das Agile ist natürlich wirklich spannend, weil es ja an vielen Stellen ganz klare Abläufe vorgibt, wie z.B. bei „Planning Poker“. Man stellt sicher, dass jede Person vorher ihre Schätzung abgibt, bevor diese mit den anderen geteilt wird. Das ist eine Variante der sog. nominalen Gruppentechnik. Das heißt, ich lasse zunächst einmal jede Person für sich selbst entscheiden und erhalte dadurch wirklich den Input jedes Teammitglieds und kann gruppendynamische Prozesse in den Griff bekommen. Wir wissen ja: Gruppendynamische Prozesse sind immer zu Ungunsten von Minderheiten. Mit agilen Methoden können solche gruppendynamischen Prozesse reguliert werden.

Andere Methoden können durchaus auch problematisch sein, wenn sie zum Ziel haben, Gruppendruck zu einem wichtigen Instrument zu machen. Die Eigenverantwortung des Teams und das Entmachten der Führungskraft bedeutet dann auch, dass Leute, die eine Minderheitenmeinung vertreten, unter Umständen noch weniger gehört werden, weil Mehrheitsdruck eine große Rolle spielt. Das ist deshalb problematisch, weil auch Vorstellungen von guten oder schlechten Aufgaben sehr vergeschlechtlicht sind. Aufgaben werden unterschiedlich gewertet: Was kommt aufs Board und was kommt nicht aufs Board. Es gibt ja nicht nur Coding-Aufgaben. Es gibt z.B. auch Office-Housekeeping Aufgaben, wie das so schön heißt. Solche Aufgaben tauchen oft nicht auf und das sind häufig die Dinge, die oft von Frauen gemacht werden, z.B. Protokoll schreiben, Kaffee kochen, das Sommerfest organisieren usw. Die Klassiker, die alle auch gemacht werden müssen, um den Laden am Laufen zu halten, tauchen da erst gar nicht auf und bekommen damit auch keine Anerkennung und bleibt unsichtbar. Das ist etwas, worauf ganz deutlich geachtet werden muss bei agilen Methoden: Was bekommt hier eigentlich Sichtbarkeit? Was wird als wertvoll erachtet und was nicht?  Man sollte sicherstellen, dass Office-Housework und Routineaufgaben auch sichtbar werden. Dass da nicht gewartet wird, bis irgendjemand sich freiwillig dafür meldet, sondern dass solche Aufgaben in der Organisation gerecht verteilt werden.  
Interessant ist auch die Rolle des agilen Coaches oder Scrum Master, also diese sich kümmernde Rolle. Auf der einen Seite bekommt sie bei agilen Methoden eine ganz große Wertigkeit. Aber auf der anderen Seite wird diese Aufgabe dann in Organisationen häufig als sehr weiblich angesehen. Wenn eine Frau erzählt, ihre Rolle sei, dass sie sich um das Team kümmere und dafür sorge, dass sie gute Bedingungen haben, dass sie arbeiten können, dann entsteht ein ganz anderes Bild als wenn ein Mann das sagt. Man merkt sehr deutlich, wie dieses Kümmern und das „sich um andere sorgen“ vergeschlechtlicht ist. Und da muss man sehr gut aufpassen, dass diese Rolle nicht per se Frauen zugeschrieben wird oder dieses Kümmern bei Frauen als normal angesehen und Männer dafür Wertschätzung bekommen. Man kann ja grundsätzlich davon ausgehen, dass Frauen in der IT auch technische Sachen mögen, aber trotzdem heißt es dann oft: „Möchtest du nicht vielleicht diese Aufgabe, das ist doch eine gute Aufgabe für Frauen?“. Nicht als Individuum wahrgenommen zu werden, sondern nur als Token, nur als Frau, das ist ja das, was wirklich eine Ungerechtigkeit ist. Dafür muss man auch sensibilisieren.  

ML: Wenn Sie nochmal an das Feld der benutzerzentrierten Gestaltung denken, gibt es da noch Tipps oder Hinweise, die Ihnen einfallen?  

NM: Zunächst ist wichtig, dass Nutzerinnen und Nutzer im Gestaltungsprozess wirklich vorkommen. Die Entwickelnden dürfen sich nicht auf ihre eigenen Überlegungen und Erkenntnisse verlassen. Es reicht nicht aus, die Schwester, die Mutter und die Schwiegermutter zu befragen. Das ist wirklich weit verbreitet und so schlimm! Professionalität bedeutet hier, die Methoden der nutzungszentrierten Gestaltung systematisch und reflektiert zu nutzen. Dabei ist z.B. auch wichtig, darauf zu achten, wer Tests durchführt oder wer zum Lauten Denken instruiert usw. Im Spezifischen habe ich mich viel mit dem Thema Personas beschäftigt. Diese werden von vielen Organisationen als beliebtes Instrument und als plausibel wahrgenommen. Sie können jedoch überaus problematisch sein, weil sie oft nur ein Sammelsurium an Stereotypen darstellen und die empirische Arbeit häufig komplett hinten runterfällt. Das hat natürlich wieder einfach mit grundlegender Professionalität zu tun, aber es ist eben auch kein Zufall, dass es bei den weiblichen Personas besonders häufig passiert, dass die so voller Stereotypen sind. Da wird beispielsweise das Thema Familienrolle erwähnt, wo es bei Männern nicht erwähnt wird, oder die Anzahl der Kinder. Manchmal ist es wirklich ein Ausbund an Stereotypen und Geschlechterungerechtigkeiten, die dann in diese Designartefakte gesetzt werden. Und dann sind wir in einem Teufelskreis: Wenn wir unsere Methoden nicht ernst nehmen, dann ist ja klar, dass dabei Ergebnisse rauskommen, die Stereotype verifizieren und verstärken. 

ML: Liebe Frau Professor Marsden, haben Sie vielen Dank für diese sehr spannenden Impulse.

 

Weiterführende Literatur von Prof. Dr. Nicola Marsden:

Zu Personas:

Mehr Chancen für Frauen in der IT, Handlungsempfehlungen:


09.08.21

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