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Prof. Dr. Nicola Marsden ist Professorin an der Hochschule Heilbronn für Sozioinformatik und hat einen Forschungsschwerpunkt zum Thema Gender und IT. Im ersten Teil des Interviews durften wir erfahren, wie sie als Psychologin zu diesem Forschungsschwerpunkt gekommen ist, warum Frauen erst die Stütze der Informatik waren, heute jedoch so stark unterrepräsentiert sind, und was wir dagegen tun können. Das Gespräch hat uns gezeigt, wie wichtig Teilhabe und die Integration unterschiedlicher Sichtweisen sind.

Magdalena Laib (ML): Frau Marsden, Sie haben ursprünglich Psychologie studiert und haben nun einen Lehrstuhl für Sozioinformatik inne. Waren Sie bereits im Studium an Themen der Informatik interessiert? 

Nicola Marsden (NM): Im Studium war das noch nicht so, da habe ich mich eher für Organisations- und Sozialpsychologie interessiert, also für Zusammenhänge und Organisation von Gruppen. Während des Studiums war ich bei Mercedes-Benz im Bildungswesen, im sogenannten PC-Lernstudio. Es entwickelte sich damals erst langsam, dass die MitarbeiterInnen Rechner an ihren Schreibtischen hatten. Viele, vor allem Frauen, kamen aus der Familienpause und wollten sich weiterentwickeln. So kam ich zur Informatik und begann auch, mich für das Thema Gender zu interessieren.  

ML: Gender und IT ist ja auch einer Ihrer Forschungsschwerpunkte. Auf Ihrer Website haben wir gesehen, dass Sie bereits 2004 ein Projekt in diesem Themenfeld durchgeführt haben. Wie sind Sie zu diesem Schwerpunkt gekommen? 

NM: Ich habe bereits zu Stereotypen über Internetnutzerinnen und -nutzer promoviert. Als PsychologInnen arbeiten wir ja sehr empirisch und man sieht gerade in der IT so viele Themen, dass es sich aufdrängt, da genauer hinzuschauen. Vor meiner Professorinnentätigkeit war ich in der Praxis, habe Unternehmen in Veränderungsprozessen begleitet und Teams entwickelt. Es ist natürlich nicht so, dass die Unternehmen proaktiv danach schreien, Vergeschlechtlichungen zum Thema zu machen, obwohl sie den Organisationsalltag durchziehen. Forscherisch wurde Gender erst dann relevant, als ich an der Hochschule war und mich damit auch wissenschaftlich befassen konnte. 
Gerade in den früheren Projekten wurde fokussiert, wie wir Mädchen und Frauen für die IT begeistern können. Obwohl ich eigentlich glaube, dass sie schon begeistert sind – aber das Bild der Informatik ist für sie nicht attraktiv. Ich glaube, mein Verständnis hat auch damit zu tun, dass ich selbst eher zufällig in der IT gelandet bin und ganz viele Menschen und Frauen erlebe, denen es genauso so geht. Sehr viele von ihnen sagen im Nachhinein: „Ja, das hätte ich auch gut studieren können“. Das Bild der Informatik nach außen, im Studium und in den Betrieben, ist für Mädchen und für Frauen wenig attraktiv. Das ist sehr schade, weil uns da wahnsinnig viel Talent verloren geht.  

ML: Wünschen sich Frauen denn andere Dinge in Bezug auf ihre Arbeit als Männer?

NM: Zu dieser Frage habe ich mit Karen Holzblatt viele Studien gemacht und wir schreiben dazu gerade auch ein Buch. Die Sache ist die, Frauen wollen genau das Gleiche, aber sie kriegen es nicht. Die Frage ist, was brauche ich, um erfolgreich zu sein? Ich brauche ein Team, bei dem ich das Gefühl habe, gut aufgehoben zu sein. Es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass sich ein Team, in dem ich in der Minderheit bin, für mich ganz anders anfühlt als für die anderen. Für Frauen - wenn wir uns jetzt mal auf Frauen fokussieren – ist die Situation wirklich eine ganz andere, auch aufgrund der Vergeschlechtlichung des ganzen Faches. Männer haben diesen Kompetenz-Zuschreibe-Vorschuss, Frauen sind mit dem sogenannten „Prove-it-Again“, konfrontiert, d.h. sie müssen jedes Mal aufs Neue sagen „ja, ich bin wirklich in der IT und ich kann auch programmieren.“ Sie werden weniger in ihrer Kompetenz wahrgenommen und wertgeschätzt. Sie werden weniger unterstützt, bekommen andere Aufgaben, haben weniger Vorbilder. Für Männer ist die Situation anders.

ML: Während des Zweiten Weltkriegs gehörten Frauen und IT wie selbstverständlich zusammen. Damals galt das Programmieren als Frauenberuf. Warum ist das heute nicht mehr so? 

NM: Dieser Abstieg der Frauen in der IT hängt damit zusammen, dass die IT wichtiger wurde, d.h. es geht hier im Kern eigentlich um Machstrukturen. An der Basis arbeiten viele Frauen und dieses Muster ist durchgängig. Frauen machen die Arbeit und bleiben im Hintergrund. Die Berufsstrukturen sind so, dass Berufe in dem Moment, wo sie überwiegend durch Frauen ausgeführt werden, auch weniger wert sind. Wertigkeit und Macht sind es ja, die an dem Thema Geschlecht so wichtig und so kritisch sind. Es geht darum, wie das Thema mit den Strukturen in unserer Gesellschaft verwoben ist und das sieht man in der Informatik recht deutlich. In dem Moment, wo die Informatik zu etwas wurde, was nicht nur „fleißig irgendwo sitzen und rechnen“ bedeutet, sondern mit dem man Einfluss haben kann, mit dem man die Welt gestalten kann, mit dem man Dinge bewegen kann, wurde die IT auch stärker von Männern besetzt und gewann dann auch wiederum an Ansehen.

ML: Unseres Erachtens gibt es zwei Baustellen: Einerseits geht es ja darum, Frauen mehr Chancen zu bieten und sie für IT-nahe Berufe zu begeistern, und andererseits darum, mehr weibliche Daten in die Forschung und Entwicklung zu integrieren. Wo sind wir denn schon weiter?

NM: Beide Themen hängen miteinander zusammen: Dieses „nicht mitgedacht werden“ und deshalb auch die Daten nicht erheben. Es geht darum, wie entwickelt wird und wer entwickelt. Ein prominentes Beispiel war die „Apple Health App“. Das Ziel war es, alle wichtigen Körperfunktionen zu erfassen, aber der Monatszyklus wurde vergessen. 

Ziel sollte es sein, Gestaltungsprozesse zu nutzen, die sicherstellen, dass darauf geachtet wird, ob jemand bzw. wer nicht mitgedacht wird. Das Ergebnis sollte nicht nur von den handelnden Personen abhängen, sondern die Abläufe sollten so gestaltet sein, dass sichergestellt wird, dass alle mitgedacht werden. Daraus ergibt sich dann auch das Datenerheben zu den Frauen.

Überhaupt ist das binäre Geschlechtersystem ein Problem, weil dabei ganz viele Menschen einfach komplett runterfallen. Es muss die Frage gestellt werden: Wo stellen wir durch unsere Konzeption bezüglich des Geschlechts Ausschlüsse her? Und das muss entsprechend beachtet werden. Wir haben da natürlich viel nachzuarbeiten, was die fehlenden Daten betrifft, und selbst wenn wir jetzt anfangen, diese zu berücksichtigen, fehlen sie retrospektiv immer noch. Das merken wir im Moment ganz stark in den KI-Anwendungen, die eben wirklich selbstlernend sind.  

ML: Aber haben Sie das Gefühl, das Bewusstsein ändert sich? Oder geht Ihnen das zu langsam?  

NM: Klar geht es mir zu langsam, aber vor allem können wir es uns nicht leisten, dass unsere Zukunft überwiegend von Männern gestaltet wird: Diversität bringt innovativere Produkte und mehr Umsatz. Das kann eigentlich niemand nicht wollen. Deshalb müssen wir uns immer wieder ganz deutlich machen, dass es nicht um individuelle Personen oder speziell Männer geht, die irgendetwas falsch machen, sondern dass es einfach Strukturen sind, mit denen wir alle umgehen müssen – Männer wie Frauen – da sind ja alle Geschlechter beteiligt. Stereotype, Rollenklischées, Stigmatisierung von flexibler Arbeitszeit, das haben wir ja alle in uns. Das heißt, man muss auf dieser Basis schauen, was sind gute Prozesse? Das ist eine Aufgabe für die gesamte Organisation und für die Führungskräfte. Ich finde es wichtig, dass das auch so gesehen und kommuniziert wird. Es muss klar sein, dass es eben nicht Frauen-Aufgabe sein kann, dass man nicht diejenigen, die ohnehin schon in einer problematischen Situation sind, zu den Agierenden machen kann. Nicht zuletzt deshalb, weil es Reaktanz erzeugt, weil dann ein Eigeninteresse unterstellt wird. Aber wenn wir in Zukunft wirklich gut sein wollen in der IT, müssen wir uns so aufstellen, dass wir das Potenzial diverser Teams nutzen. 

ML: Frau Professor Marsden, haben Sie vielen Dank für diese spannenden Gedanken.

 

Im zweiten Teil des Interviews mit Frau Prof. Dr. Marsden werden wir dann einen Blick auf das Thema Geschlechtergerechtigkeit in kleinen und mittleren Unternehmen werfen.


30.07.21

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