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Die Grenzen zwischen real und virtuell verschwimmen täglich ein bisschen mehr. Schon seit Pong, dem ersten Computerspiel, ist die Welt der Gamer ein Testfeld für neue Technologien und deren Möglichkeiten. Von einem der auszog, auf einem Bürostuhl zu fliegen.

Vor Kurzem konnte ich an einem Vorserientest teilnehmen. Unternehmen stellten Produkte vor, die in den nächsten Jahren auf den Markt kommen sollen. Im Wesentlichen waren die Entwicklung des TV zur Multimediazentrale zu bestaunen, in der das Fernsehen, wie wir es kennen, nur ein Kanal von vielen auf einer Oberfläche a la Tablet ist. Gestensteuerung und Steuerung durch Zuruf scheinen schon ziemlich ausgereift. Auch die Anordnung von Kanälen aus TV, Netz, Online-Videotheken und Games schaffen ein individuell konzipiertes Erlebnis.
 
Highlight der Veranstaltung war wohl für die meisten Anwesenden die 3D-Brille, vorgestellt von „Generation Digitale“ aus Hamburg. Ein Angebot das eigentlich etwas aus dem Rahmen fiel. Als ich den kleinen Ziegelstein sah, den man sich vor die Augen packen musste, war ich zunächst enttäuscht. Sah nicht besonders cool aus. Aber schon die Beobachtung meiner Vortester zeigte, dass Erlebnis der Achterbahnfahrt musste wohl ziemlich lebensecht sein, so wie man da mitging, sich in die Kurven legte und die Sohlen beim Bremsen in den Teppichboden presste.
 
Freudig erregt setze ich die Brille auf. Gut: Vorserie, noch ziemlich grobkörnig. Ich schaue über die Strecke der Achterbahn, die sich schwindelerregend in und über ein riesiges Fantasy-Schloss rankt. Selbstverständlich sitzt man in Reihe eins und diese Achterbahn muss sich nicht an Physik und Statik orientieren. Der Streckenverlauf wird allein nur durch Schienen und Holzbohlen, die in die Luft gelegt sind, dargestellt. Ein „Stairway to Heaven“, der nirgendwo festgeschraubt oder sonst wie gehalten werden muss, was das Schwindelgefühl eindeutig erhöht.
 
Faszinierend schon vor dem Start, die Totalität des Effekts. Man kann nach oben oder unten schauen, sich umdrehen. Die Software reagiert in Echtzeit und wird schnell wirklicher als die Wirklichkeit. Aber jetzt geht es ja erst richtig los.
 
Obwohl ich schon oft und gerne Achterbahn gefahren bin, bis hin zu Mehrfach-Loopings, und dabei immer viel Spaß hatte, war schon das Hochschrauben der Bahn über die Zinnen von Fantasy-Castle ziemlich intensiv. So weit steigt eben keine reale Strecke in den Himmel. Bei der ersten Sturzfahrt, die natürlich steiler und länger war, als das jemals zu bauen wäre, hatte ich dann auch sofort eine kleine Panikattacke und musste die Brille kurz absetzen. Nach einer halben Minute! Trotz nicht perfekter Videoqualität und dem Gebrabbel von ungefähr 30 Leuten im Raum. Dass ich eine 3-D-Brille trage und mich ja gar nicht bewege, hab ich auch nicht vergessen. Jetzt wurde ich von den Probanden so belächelt, wie ich es kurz vorher auch getan hat. Mein Neffe würde sagen: echt fett.
 
Nach Neustart ging es dann zwar, aber es war „harder than the real thing“. Der virtuelle Wagen saust durch die Burg, tanzt um die Zinnen, um sich kurz darauf senkrecht in eine derartig tiefe Tiefe zu stürzen (auch beim zweiten Mal eine echte Herausforderung) und dann richtig mit Schmackes durch ein enges Burgtor zu sausen. Eine nahezu senkrechte Steilkurve und wieder hoch, bis vor dir nur noch ein paar Bohlen liegen und der Himmel. Und da, plötzlich: Die Strecke ist zu Ende, man fliegt, schön festgekrallt an die Lehne, durch die Wolken. Lost in Space. Doch da liegen auf einmal wieder ein paar Holzbohlen in der Luft, man landet passgenau. Nach einer fetten Schussfahrt steht man quasi ohne Bremsweg plötzlich am Prellbock, dass man fast vorn aus dem Stuhl kippt. Keine andere Achterbahnfahrt hat mich so von den Socken gehauen. Und die war ja sogar „netterweise“ kurz.
 
Michael Reinermann, Geschäftsführer von „Generation Digitale“, ist ziemlich stolz auf die Wirkung seiner Brille, betont aber: „Die Software wird noch viel realistischer werden. Wird aber noch ein bis zwei Jahre dauern, sagen die Entwickler.“
 
Ein paar Tage später sah ich einen Auftritt des Gedankenlesers Thorsten Havener. Er plaudert zwischendurch gern aus dem Nähkästchen, wie leicht das menschliche Gehirn zu überlisten ist und welche psychologischen Gesetzmäßigkeiten er nutzt: „Du glaubst, was du siehst, nicht was du hörst oder weißt.“ Das kann ich als Brillen-Achterbahnfahrer nur bestätigen. Laut Michael Reinermann sollen Tester schon mit heftiger Übelkeit reagiert haben. Glaub ich sofort.
 
Ich kann nur nochmal betonen, bevor ich es vor Augen hatte, konnte ich mir eine solche Ganzkörpererfahrung nur durch Sehen nicht vorstellen. Mit 3-D-Filmen oder diesen 180–Grad–Kinos hat das nix zu tun. Im Grunde ist es das Fühlkino Feelies im Sinne des Science-Fiction-Autors Aldous Huxley in Brave New World (übrigens von 1932).
 
Mit etwas Fantasie sind viele andere Anwendungen denkbar. Industriell zum Beispiel von Arbeiten im Nanobereich und bis zur Simulation von Großprojekten. Die Erwachsenunterhaltung wird sich drauf stürzen, vermute ich mal. So werden in Zukunft wohl viele auf ihren Bürostühlen fliegen lernen!

Doch bei aller Begeisterung haben sich noch ein paar andere Gedanken aufgedrängt. Denn die Mächtigkeit dieses Produktes ist nicht nur beeindruckend sondern auch beängstigend. Wie will man verhindern, dass sich Nutzer damit ihr Gehirn durchquirlen, weil sie das Abschalten vergessen, egal was in der Bedienungsanleitung steht. Gesundheitliche Aspekte darf man nicht marginalisieren. Nach 3 Minuten Achterbahnfahrt weiß man ja schon nicht mehr, wo oben und unten ist. Ich möchte nicht auf zwei Pubertierende aufpassen, die vorher stundenlang auf virtueller Monsterjagd waren. Im Verhörraum eines diktatorischen Regimes möchte man der Brille sicher auch nicht begegnen. Mit welcher Software man was anrichten kann, mag man sich gar nicht ausdenken, befürchtet aber, dass nicht jeder das so sieht.

19.11.13

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