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Die Geschäftsführer der Zukunftsangelegenheiten GmbH: Olaf Lehnigk (links) und Jan Erdweg (rechts)

 
Die Zukunftsangelegenheiten GmbH betreibt die digitale Plattform Grüne Stadtlogistik, die unabhängige Fahrradkuriere mit diversen Anbietern aus dem Bio-Lebensmittel-Bereich (sogenannte Versender) verbindet und so eine flächendeckende, emissionsfreie Belieferungsoption in den Städten ermöglicht. Zukunftsangelegenheiten nimmt sich dabei dem Problem der letzten Meile an, denn diese ist einer der Hauptverursacher von Staus, Lärm und Abgasen. Die EXXETA AG, ein Technologie-Beratungshaus aus Karlsruhe, hat die Zukunftsangelegenheiten GmbH dabei von der Idee bis hin zur Marktreife der Plattform und darüber hinaus begleitet.

Das Herzstück der Plattform Grüne Stadtlogistik ist ein Algorithmus, der das Problem des Handlungsreisenden zu lösen versucht. Die Herausforderung: Es gibt eine Vielzahl an Fahrzeugen (auch bekannt als Vehicle Routing Problem) – in diesem Fall Lastenräder und andere elektronische Kleinfahrzeuge, die verschiedene Kapazitäten haben und an Zwischenlagern, sogenannten Microhubs, stehen. Das Ziel des Algorithmus ist es, für eine bekannte Anzahl an Stopps und Fahrzeugen die kürzeste Gesamtstrecke zu berechnen. Dafür müssen neben den Längen der Einzelstrecken unter anderem auch die Lieferzeitfenster berücksichtigt werden. Da die Zukunftsangelegenheiten GmbH mit zahlreichen Versendern zusammenarbeitet, die Waren zu Endkunden ausliefern möchten, lassen sich bessere Stoppdichten zudem durch Versender-übergreifende Belieferungen erreichen.

Damit die Plattform Grüne Stadtlogistik sowohl von den Radlogistikern als auch von den Versendern angenommen wird, mussten viele Prozesse, die bisher häufig per Excel, E-Mail oder sogar noch auf Papier gehandhabt wurden, digitalisiert und so vereinheitlicht werden, dass sie für alle Beteiligten nutzbar sind.

Um das zu erreichen, haben wir zahlreiche Interviews geführt, um die Anforderungen der Stakeholder aufzudecken und zusammenzuführen. Wichtig dabei war, sowohl die Schmerzpunkte als auch die Begeisterungsfaktoren der Fahrer, Disponenten* und Versender zu erkennen, um diese bei der Konzeption der Anwendung berücksichtigen zu können. Denn in unserem Fall ist die User Experience das Verkaufsargument für die Nutzung der Plattform.

Das Ergebnis der Befragungen war eindeutig. Der größte Zeitfresser und Frustrationsfaktor für die Fahrer war es, die auszuliefernden Waren in den Lagern zu finden. Unsere Lösung: Wir haben die Microhubs digitalisiert, indem wir einen Kisten-Katalog im System aufgebaut haben, der es ermöglicht, die genauen Abmessungen der einzelnen Lieferungen zu verwalten. Die Microhubs selbst können von den Radlogistikunternehmen jetzt über ein Zeichentool nachgebaut werden. Das ermöglicht es den Unternehmen, genau festzulegen, wo welcher Versender seine Waren im Lager ablegen soll. Ein „Tetris-Algorithmus“ unterstützt bei der Frage nach dem effizientesten Ablagesystem und berücksichtigt dabei auch die Auslieferreihenfolge der Waren.

Den Versendern übergeben wir dann digital eine Packliste und einen Einlagerungsplan, anhand dessen sie genau erkennen können, wo welche Ware im Microhub abgelegt werden muss. Selbst wenn eine Tour nach Anlieferung der Ware manuell umgeplant werden sollte, kennen wir den Ablageort im Microhub, so dass die Ware schnell und einfach aufgefunden werden kann. 

In der Microhub-Verwaltung können die Zwischenlager einfach digital nachgebaut und den Versendern die genauen Ablageorte der Waren zugewiesen werden.

 

Da die Fahrer der Radlogistikunternehmen bei Wind und Wetter mit dem Fahrrad unterwegs sind, war es ihnen außerdem ein Anliegen, die App möglichst auch mit durchgefrorenen Fingern oder Handschuhen bedienen zu können. Deshalb haben wir besonders darauf geachtet, große Buttons und Klickflächen zu nutzen. Außerdem war uns wichtig, dass die Fahrer möglichst viel Freiraum bei der Nutzung der App haben. Das heißt, dass sie zum Beispiel als optionales Feature ihre eingesammelten Warenartikel und Schlüssel in der Packliste abhaken können, aber nicht müssen.

Die mobile App, die die Fahrer beim Packen und Ausliefern unterstützt, wurde mit React entwickelt und zunächst für Android optimiert.

Mit dem Algorithmus zur Tourenbildung konnten wir die Disponenten begeistern, weil wir ihre Arbeit erleichtert haben. Gleichzeitig wollten wir alle Beteiligten auch in die Lage versetzen, schnell und individuell auf neue Herausforderungen reagieren zu können. Wir sind also dazu übergegangen, die Disponenten einerseits mit unseren Algorithmen zur Tourenberechnung zu unterstützen, ihnen aber auch manuelle Eingriffs- und Steuermöglichkeiten zu geben, etwa

  • die Ware zu anderen Lagern liefern zu lassen, falls personelle Ausfälle vorliegen,
  • direkt auf einer Karte die Touren aufzubrechen und zu verändern
  • oder den Startzeitpunkt der Touren und die Zuordnung auf die Fahrer und Fahrzeuge manuell vorzunehmen.

An dieser Stelle bestand die Herausforderung, die optimalen Anzeigefelder in der Anwendung auszumachen. Während wir uns in der Entwicklung an den Stopp- und Tour-IDs orientierten, stellte sich im Laufe des Projektes durch den engen Austausch mit den Stakeholdern heraus, dass die Disponenten mehr Wert auf die Nachnamen der Kunden und die Straße legten, wenn sie sich über die Stopps unterhielten. Derartige Erkenntnisse haben wir in den Entwicklungsprozess einfließen lassen, um die Plattform optimal auf unsere Zielgruppe abzustimmen.

Mithilfe der Kartendisposition können die Disponenten die Touren direkt auf der Karte optimieren.

 

Darüber hinaus galt es, Schnittstellen zwischen der Grünen Stadtlogistik und den Warenwirtschaftssystemen der Versender zu bauen, über die die notwendigen Kunden- und Wareninformationen übermittelt werden können. Legacy-Systeme und unterschiedlichste Methoden der Datenhaltung waren nur zwei der Hürden, die dabei überwunden werden mussten.

Das Backend für die Plattform Grüne Stadtlogistik ist ein komplexes System mit zahlreichen Abhängigkeiten, Automatismen und manuellen Eingriffsmöglichkeiten. Vor diesem Hintergrund war es außerordentlich wichtig, für jede Persona und Rolle ein angepasstes User Interface bereitzustellen mit durchdachten Farbkonzepten für die einzelnen Elemente und Hilfe-Icons an den Stellen, an denen der Nutzer den für ihn relevanten Teil des Prozesses nur mit weiteren Erläuterungen verstehen kann. So haben wir sichergestellt, dass die Nutzung der Plattform trotz ihrer Komplexität im Backend einfach und schnell erlernbar ist.

Generell haben wir uns bei der Anwendung an die ISO 9241-110 gehalten, also an die sieben Grundsätze der Dialoggestaltung, indem wir

  • den Prozess für die wichtigsten Benutzerrollen optimiert haben, um unnötige Interaktionen zu minimieren (Aufgabenangemessenheit und Individualisierbarkeit);
  • die Sprache der User verwendet sowie E-Learning und Interaktions-Rückmeldungen eingebaut haben (Lernförderlichkeit und Selbstbeschreibungsfähigkeit);
  • den Benutzer durch Dialoge unterstützen, um Fehler zu vermeiden und ihm Eingriffsmöglichkeiten zur Fehlerkorrektur für automatisierte und manuelle Aktionen zu geben (Steuerbarkeit und Fehlertoleranz);
  • ein konsistentes Farbkonzept für die Touren und Buttons verwenden sowie konsistente Bedienungsabläufe gewährleisten (Erwartungskonformität).

Wir freuen uns sehr, dass unser System seit Anfang 2020 erfolgreich in Berlin im Einsatz ist und einen Beitrag leistet, die Luftverschmutzung, Lärm- und Infrastrukturbelastung in der Stadt zu reduzieren. Wir planen, die Anwendung weiterhin stetig zu optimieren – zum Beispiel mit einer Tablet-Ansicht und einer Augmented-Reality-Erweiterung.

 

 

Über die Autorin

Annabelle Stößer

Projektleiterin & UX/UI-Designerin, EXXETA AG

Annabelle Stößer hat seit über 4 Jahren Erfahrung als Consultant im Bereich UX / UI und Requirements Engineering. Ihre praktischen Erfahrungen stammen sowohl aus verschiedenen Projekten aus den Bereichen Automotive, Pharmaindustrie und Logistik, als auch aus ihrer Berufserfahrung im Marketing. Ihr fachlicher Schwerpunkt liegt im Umfeld von agilen Anforderungs- und Projektleitungsmethoden, UX/UI-Beratung und -Konzeption.

 

Weitere Informationen

Die Website der Zukunftsangelegenheiten GmbH: https://www.grünestadtlogistik.de/

Details zum Projekt auf der Website der EXXETA AG: https://www.exxeta.com/de/referenzen/gruene-stadtlogistik/

Der Vortrag zum Projekt beim Karlsruher Innovation Festival: https://youtu.be/PVHnLgdAjCo

 

*Disponenten sind in unserem Kontext bei den Radlogistikunternehmen angestellt und planen dort die Touren der Fahrer. Sie sind für die Microhubs zuständig und verwalten alles von den Fahrzeugen, über die Ware bis hin zu den Fahrern.

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